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Tipp des Monats - Franz Kafka: Der Verschollene

: Roman / Franz Kafka ; Nachwort von Michael Müller. - Stuttgart : Reclam, 2015. - 318 Seiten - (Reclam Universal-Bibliothek ; 9688)
ISBN 978-3-15-009688-8

Am 3. Juni 2024 jährt sich Franz Kafkas Todestag zum 100. Mal. Einmal mehr Anlass, um den wohl meistinterpretierten Schriftsteller der Welt für das hallesche Bibliothekspublikum zu empfehlen. Seine drei erhalten gebliebenen Romanfragmente sind allesamt posthum erschienen. Sie wären es wohl nie, wenn sein Freund und Förderer Max Brod seinem letzten Willen entsprochen und sein noch nicht publiziertes Werk vollständig vernichtet hätte. Es kam anders. Und so sind seine Romanfragmente der Welt erhalten geblieben.

Der Verschollene greift bereits weit in die moderne Welt hinein. Geschrieben in den Jahren 1911 bis 1914, wurde der Text 1927 erstmalig veröffentlicht. Im Kern geht es um das Exil des jungen Karl Roßmann, der, in wohlhabenden Verhältnissen in Prag aufgewachsen, von seinen Eltern auf einem Dampfer nach Amerika verschickt wird, weil ihn ein Dienstmädchen verführt hat und ein Kind von ihm erwartet. Das erste Kapitel Der Heizer erzählt von der Ankunft im Hafen von New York, der Bekanntschaft mit dem Schiffsheizer und dem darauffolgenden Wiedersehen mit seinem vor Jahren ausgewanderten Onkel Jakob, der es mit seinem Speditionsgeschäft zu enormen Wohlstand gebracht hat.
Karl erfährt das Glück seiner Zuwendung, muss aber auch pflichtbewusst die ihm auferlegten Aufgaben akribisch betreiben, um den hohen Erwartungen und Prinzipien seines Onkels auch nur annährend zu entsprechen. Schon bald folgt auch dort durch unglückliche Umstände die Verbannung aus dem Hause des Onkels und Karl muss sich nun – auf sich allein gestellt – um sozialen Anschluss und Lohn bemühen.

Kafkas Romandebüt wohnt ein besonderer Unterhaltungswert inne. Es ist zum einen erstaunlich, wie er das moderne und geschäftige Amerika imaginiert. Das Arbeitsethos im Unternehmen des Onkels, bei dem das Grüßen abgeschafft wurde und ein niemals enden wollender und schon gar nicht herzlich werdender Verkehr zwischen Menschen den Arbeitsalltag bestimmt, wird anschaulich dargestellt. Der technikaffine Kafka nimmt hier auch schlichtweg die Idee des ersten „Headsets“ voraus – eine Art Metallspange, die den Kopf des Angestellten umspannt und eine Hör- und Sprechmuschel hält, damit er beidhändig auf der Schreibmaschine tippen kann - während er mündlich korrespondiert. Die vielen slapstickartigen Beschreibungen lockern die manchmal bedrückende Atmosphäre des Romans auf. Unvergessen bleiben auch die dynamisch vorangetriebenen Szenen, die beschreiben, wie Karl als Liftboy im großen Hotel Occidental durch alle Etagen hetzt und nebenbei tausend kleine Zusatzaufgaben erledigt. Am Ende dieses erzählerischen Parfoceritts bleiben Karl und die Lesenden atemlos und erschöpft zurück. Große Literatur!
Empfohlen für jede und jeden, die bisher wenig mit den Tierparabeln und den oft fantastischen Erzählungen Kafkas anfangen konnten. Der kaum dreißigjährige Kafka imaginiert hier seine literarischen Motive leicht und voll von szenischer Bildgewalt.

Empfohlen von Herrn Strzoda / Zentralbibliothek.

Standort:
Zentralbibliothek
R 11  Klassiker
Kafk